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„Ex oriente lux“ im russischen Shanghai – das Eurasia-Festival in Jekaterinburg findet zum zweiten Mal statt und überrascht mit einem klug durchdachten und anspruchsvollen Konzertprogramm.
Von Sabine Weber
(Jekaterinburg, Oktober 2013) Jekaterinburg wurde wie Sankt Petersburg von Peter dem Großen gegründet. Aber hier findet aber normalerweise kaum ein Tourist hin, es sei denn er sitzt in der Transsibirischen Eisenbahn. Jekaterinburg liegt im Ural. Es ist eine Bergbau- und Industriestadt. In der Sowjetzeit wurden hier Panzer gebaut, Satellitenteile entwickelt und auch mit Nuklearwaffen experimentiert. Deshalb war die Stadt Sperrzone. Und dann wurde auch noch die letzte Zarenfamilie in Jekaterinburg ermordet. Alles keine Image fördernden Tatsachen. Dennoch ist hier eines der ältesten russischen Orchester beheimatet. Aber das 1936 gegründete Uraler Philharmonische Orchester, das regelmäßig in der Jekaterinburger Philharmonie auftritt, durfte nie reisen. Seit dem Zerfall der UdSSR ist zunehmend auch international unterwegs und hat vor zwei Jahren ein eigenes Festival, das Eurasia-Festival gegründet. In diesem Jahr thematisierte das Eurasia-Festival in den Konzerten die Frage, wie der Osten den Westen musikalisch beeinflusst und umgekehrt. Mit zwei Auftragskompositionen, einem dreieinhalbstündigen Cage-Programm und einem Jugendorchesterprojekt setzte das Festival für russische Verhältnisse in der ersten Hälfte unerhörte Akzente.
Bereits das Eröffnungskonzert des Eurasia- Festivals war eine erstklassige Visitenkarte. Es begann mit den Klängen einer Jekaterinburger Komponistin, die das Glückstier der Chinesen in der Philharmonie klanggewaltig aufsteigen lässt. In ihrem vor zwei Jahren komponierten „Azurblauer Drache“ schrecken vorwärts treibende Streicher laut quietschende Holzbläser auf. Nach dieser plakativen aber bestens zum Festivalmotto passenden Einleitung, brachte das Philharmonische Orchester vom Ural unter Dmitri Liss zwei Auftragskompositionen zu Uraufführung? Unterschiedlicher hätte das Licht aus dem Osten nicht widergespiegelt werden, als in den beiden aufeinander treffenden Beiträgen. Mit der westlich klassischen Musiktradition in Seoul aufgewachsen, kam Eun Hwa Cho erst im Westen mit der traditionellen Musik ihrer östlichen Heimat in Berührung. Für die koreanische Komponistin wurde die Verbindung zwischen Europa und Asien erst in Berlin, wo sie heute lebt, zu einer Identitätsfrage. „Back into. Out of“ heißt der Titel ihres neuen Stücks. Die koreanische Trommel Jianggu, traditionell ein Begleitinstrument, trifft auf orchestral aufgefächerte Farbflächen und hat am Ende ein großes Solo. Das erste Jianggu-Solo der koreanischen oder besser eurasischen Musikgeschichte. Sie wird hier in der Jekaterinburger Philharmonie neu geschrieben.
Natürlich geht es dem Uraler Philharmonischen Orchester bei den Auftragskompositionen auch darum, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Dennoch ist es erstaunlich, wie die Neue Musik punktet, und das Stammpublikum in der Jekaterinburger Philharmonie ist dafür offen. Eun Hwa Cho war überrascht, als ihr der Auftrag vom Eurasia-Festival ins Haus flatterte. Russland lebt doch nur in seiner reichen Vergangenheit. Falsch, in Jekaterinburg blickt man nach vorne. Man kennt die internationale Szene und kannte Eun Hwa Cho, die Hanns-Eisler Preisträgerin 2002, und sie bot sich als Personifizierung des Festivalmottos an.
Die Geister, die Russland in eine musikalische Zukunft führen, hier in Jekaterinburg sind sie erwacht. Auch wenn der Sankt Petersburger Komponist Leonid Dessjatnikov nur gefällige Puccini-Rührung neu aufquirlt. Rückfälle gehören dazu. Was der Osten vom Westen lernen kann, führte das Hong-Kong Chinese Orchestra eindrücklich vor. Mit für das Orchesterkollektiv nach westlichem Zuschnitt seltsamen Instrumenten brachte es die Jekaterinburger Philharmonie aus dem Häuschen. Aber auch bei einer dreienhalbstündigen Open Lecture über John Cage und Morton Feldmann war die Philharmonie gefüllt. Und ließ sich auf meditative Stimmungen mit tröpfelnden Tönen, Live-Elektronik und diversen präparierten Flügeln ein. Allerdings lichtete sich die Philharmonie, als die drei Stunden Marke überschritten wurde.
„Hier sind die Menschen wahnsinnig bildungshungrig“, stellt auch Andreas Klassen fest. Seit März ist er deutscher Generalkonsul in Jekaterinburg, und das auf eigenen Wunsch. „Die Leute sind hier kulturell aktiver als bei uns!“, so seine Beobachtung. In Jekaterinburg gibt es drei Institutionen, die Sinfonieorchester betreiben, dann eine Art Kinderphilharmonie, wo talentierte Kinder und Jugendliche auftreten, Die Vorstellungen des Theaters, ein Drei-Spartenhaus, seien immer ausverkauft. Ein Abo für die Philharmonie zu bekommen, sei schier unmöglich. Jekaterinburg im Ural, als Bergbaustadt gegründet, hatte schon immer reiche Industrielle und Händler, die Kultur zu ihrem Lebensstandard zählten. Als Jekaterinburg zur Waffenschmiede der Sowjets umfunktioniert wurde, war die Stadt zwar nach außen abgeschottet. Aber die Sowjets richteten erstklassige Universitäten ein. Man spricht hier sogar von den goldenen Jahren in den 1930ern und 40ern. Die jüngeren Generationen sprechen jedenfalls einwandfreies Englisch, Deutsch oder Chinesisch. Und zahlreiche Studenten wirbeln als freiwillige Assistenten auf dem Festival, helfen bei den Übersetzungen und begleiten Künstler, Journalisten und Gäste.
Die Hauptstadt im Ural ist im Aufbruch und auch im Umbruch. Überall schießen wuchtige Glasstahltürme zwischen den meist nur zweistöckigen historischen Gebäuden aus dem Boden, weswegen Jekaterinburg auch das russische Shanghai genannt wird. Freilich mit ironischem Unterton, denn Stadtplanung ist hier ein unbekanntes Wort. Das letzte wunderbare Altstadtviertel am See soll jetzt auch noch einem modernen Stadtviertel weichen. Der Ural will seine Unabhängigkeit gegenüber Moskau beweisen. Zur Zeit bewirbt sich Jekaterinburg für große internationale Ereignisse. Es ist ein Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2018. 2020 möchte man die Weltausstellung ausrichten. Im November wird darüber entschieden. Und längst arbeitet die Jekaterinburger Philharmonie auf Hochtouren am Kulturimage der Stadt. Via Internet überträgt sie Konzerte aus der Philharmonie in die entferntesten Ural-Gebiete und in Altenheime und Kliniken in der Stadtregion.
Dass auf dem Eurasia-Festival 2013 Musik zu hören ist, die lange Zeit in Russland kaum gespielt wurde, wozu auch die Violinkonzerte der Minimal-Komponisten John Adams und Phil Glass gehören, will man aber nicht als Pioniertat verstanden wissen. Das habe mit dem Motto des Festivals – das Licht vom Osten – zu tun gehabt, so die Programmdirektorin Guylara Sadikh-Zade. Viele amerikanische Musiker haben den Einfluss des Buddhismus erlebt. Der Minimalismus als Musikrichtung sei sehr ähnlich der östlichen Monodie. Ein orthodoxer byzantinischer Chor aus Bukarest gehörte ebenso ins Programm, wie aserbaidschanischen Mugham-Gesang. Ein deutsches Jugendorchester, die 2011 gegründeten Mannheimer Philharmoniker, waren zusammen mit dem Jugendorchester der Uraler Philharmonischen Orchesters zu hören. Das MDR Sinfonieorchester Leipzig unter Kristjan Järvi bildete einen Höhepunkt, auch wenn der tänzelnde Dirigent bei der Achten Beethovens jegliches Traditionsverständnis mit Highspeed überrollte (freilich ohne dass das Orchester seine Spielkultur verloren hätte). Ein Festival auf hohem Niveau, was Solisten – vier erstklassige junge Geiger wurden hier vorgestellt -, Ensembles und Orchester angeht, und das sich vorbehaltlos mit einem Thema auseinandersetzt, ist vielleicht nur möglich, weil es fern von Moskau, fern von Sankt Petersburg nach eigenen Regeln agieren kann.
Source: http://www.klassikinfo.de/Jekaterinburg.1898.0.html